Interessantes zum Baum:
Ob New York oder Kleinkleckerstadt, einen besonders schönen und erstaunlichen Baum findet man überall. Er ist einer, der sich aus schlechter Luft nichts macht und auch mal gern an dicken Straßen mit viel Verkehr wächst und gedeiht. Im Sommer ist er grün und im Herbst herrlich goldgelb. Und wenn man Pech hat, hat das Stadtgartenamt Mädchen zwischen die Jungs gepflanzt, die einem dann im Herbst zwar goldgelbe, aber grässlich stinkende, fruchtähnliche, glitschige Samenkugeln auf Straße, Gehweg und — ganz schlimm — das Auto fallen lassen. Sie wissen schon, wie der Baum heißt. Ja, es ist der Ginkgo.
Den ersten Ginkgo erblickte Europa im Februar 1691 und zwar mit den Augen Engelbert Kaempfers (1651 bis 1710), der im Dienste der Niederländer in Japan als Arzt arbeitete. Kaempfer hatte in Krakau und Königsberg Medizin, Botanik und Arzneikunde studiert und nutzte bereits vorher als ärztlicher Reisebegeleiter jede Gelegenheit, Pflanzen zu sammeln, zu herbarisieren, zu zeichnen, zu beschreiben. Er verließ sich dabei nicht nur auf sein aufmerksames Auge, sondern erfragte auch immer Wissen von den jeweils Einheimischen.
Im Herbst 1690 kam Kaempfer nach Japan, wo er — wie alle Ausländer in jener Zeit — auf der vor Nagasaki gelegenen Insel Dejima abseits des japanischen Lebens wohnen musste. Eine Reise im Frühjahr 1691 mit dem Oberhaupt der Vereinigten Ostindischen Companie (VOC) in einem streng bewachten Konvoi erlaubte ihm aber das Botanisieren am Wegesrand der Reisestrecke, wobei er den Catalogus Plantarium Japonaricum über die Pflanzen der Inselwelt Japans schrieb.
Der Ginkgo-Baum fiel Kaempfer ersterhand wegen seines eigenartigen Blatts auf, das weitergehende Interesse des Arztes entzündete sich am diätischen Nutzen der 'Ginkgo-Nüsse'.
Schon bald nach seiner 'Entdeckung' avancierte der fremdartige und übrigens auch in Japan gar nicht originär heimische Baum in einer neugierigen und detailverliebten Zeit zum Spektakel der botanischen Gärten und königlichen Pflanzensammlungen in Europa: 1730 Utrecht, 1754 England, 1768 Wien. Und alle aus von Japan importiertem Samen gezogen. Erst 1814 fand der Schweizer Botaniker August Pyramus de Candolle bei Genf zufällig einen weiblichen Ginkgo, von dem er Reiser auf die männlichen Exemplare im Botanischen Garten von Montpellier pfropfte. Bei soviel Nähe von männlicher und weiblicher Blüte (beziehungsweise Samenanlage) klappte es dann und die wohl ersten europäischen Ginkgosamen, die zudem noch keimfähig waren, konnten geerntet werden. [3]
Eine nähere Betrachtung des faszinierenden Ginkgo-Blatts und auch der Gestalt des Baums zeigt die Begrenztheit der gängigen Unterscheidung der Baumwelt in solche mit Nadeln und solche mit Blättern. Und in der Tat stellt das fächerförmige, oft tief geschlitzte Blatt mit seinen parallelen Adern ein Mittelding zwischen den Nadelbäumen und den Laubbäumen dar. Insofern die Fächerblätter des Ginkgo als 'flächige Nadelblätter' verstanden werden können [vgl. 2], stehen sie trotz ihrer gestaltlichen Ähnlichkeit mit Laubbäumen den Nadelbäumen näher. Womit es sich übrigens nicht um das einzige Merkmal handelt, das den Ginkgo als Baum des Erdmittelalters, also als lebendes Fossil ausweist.
Verwunderlich ist sodann weniger, wie der Baum aussieht, sondern, dass es ihn noch gibt. Möglich, dass die Existenz dieses erstaunlichen Baums — jedenfalls für die letzten anderthalb tausend Jahre — durch die Hege des Menschen möglich wurde. Es ist nicht einmal sicher, ob es noch nativ natürliche Bestände vom Ginkgo gibt. Wie auch immer, der Ginkgo ist ein Überbleibsel, ein Zeitreisender, der einzige einer Art von Bäumen, die noch die Dinosaurier persönlich gekannt haben mögen.
Die Geschichte des Ginkgos und ihm sehr ähnlicher Bäume begann vor etwa 280 Millionen Jahren. Aus komplizierteren Blattkonstruktionen entwickelten sich damals einfachere und zugleich in Bezug auf die Reproduktion effektivere Blattformen. Zum einen das Nadelblatt der Koniferen, zum anderen das Gabelwedelblatt der Ginkgogewächse.
Gerade bei diesen Gabelwedelblättern kann man aber nicht von Blättern nach heutigem Verständnis reden. Zum einen waren/sind sie mit ihren parallelen Saftachsen den schmalen Blättern der Nadelbäume im Aufbau sehr ähnlich und anderseits nicht irreversibel hochspezialisiert, sondern multifunktional variabel. Noch heute kann die Anlage eines Blatts beim Ginkgo genauso Blatt wie Blüte, männlich oder weiblich, Samenanlage werden und dann und wann findet man 'missglückte' Definitionen, die weder das eine noch das andere sind, vielleicht sogar beides. Ganze 100 Millionen Jahre lang dann "hatten die am höchsten entwickelten Pflanzen alle stimmgabelförmig aufgabelnde 'Blätter'." [6]
Irgendwie war es dann mit der ganzen Vielfalt vorbei und übrig blieb der eine und zuletzt nur als Restbestand in einem kleinen Gebiet in Ostchina [2].
Wie vielfältig die "Jurassic Trees" waren, zeigen die fossilen Überbleibsel, die inzwischen die ganze Spannbreite ginkgoider Bäume zeigen: Hunderte von Arten mit vielförmigen Blattformen auf der Basis der paralleladrigen, zweiteiligen Blätter in Zungen- bis Nadelform, zwei-,vier- oder noch öfter geteilten Wedeln. [6]
Der alte Ginkgo in Kin auf Tsushima hat Blitzeinschlag, Feuer und einen Taifun überlebt. Er ist hohl, aber wächst als wäre nichts gewesen.
Auf Kyushu wächst vor der Burg von Kumamoto ein Baum, den General Kato Kiyomasa gepflanzt haben soll. Im Satsuma-Aufstand (1877) verbrannte er vollständig, um mehr als 100 Jahre später wieder auszutreiben.
Vom Ginkgo von Tarumizu geht die Sage, dass er einst gefällt werden sollte, dem Baumfäller aber der Baumgeist in Gestalt einer schönen Geisterfrau erschienen sei. Die habe ihn gebeten, den Baum leben zu lassen, weil sie darin wohne. Der Baum wurde nicht gefällt.
Am Kushida-Schrein in Fukuoka steht ein mächtige Ginkgo mit 30 Metern Höhe und 16 Metern Umfang. Der 1000-jährige überlebte ohne Schaden mehrere Unglücke und Taifune. Ein Kami bewohnt ihn und der Baum altert offensichtlich nicht.
Verschiedene Ginkgos bei Hiroshima haben die Atombomben überlebt. In Teramachi, 800 Meter vom Zentrum der Explosion nur, wurde ein Baum auf der einen Seite davon ausgehöhlt. Er lebte weiter. Von allen Pflanzen zeigten Ginkgos die stärkste Regenerationskraft und trieben schon bald nach der Katastrophe wieder viele junge Schössslinge.
[alle vgl. 4]
In China reflektierten Literatur und Malerei den Ginkgobaum erstaunlich spät, nämlich im 11ten Jahrhundert zur Zeit der Sung-Dynastie (960 bis 1278). Samen waren von der Provinz Anhwei, dem Standort der letzten kleinen, wilden Populationen des Ginkgo, in die Kaiserstadt Kaifeng, wo der Baum mit den besonderen Blättern als wertvolle Rarität galt. Man nannte ihn Jing Hsing, Silberaprikose und bezog sich dabei auf seine goldgelben, aber außen bläulich-silbern schimmernden, aprikosengroßen und fleischigen Samenhüllen. In Anhwei hatte der Baum seiner Blätter wegen Ya Chio, Entenfuß geheißen. In der Zeit der Yüan-Dynastie (1238 bis 1368) wussten schon die Kräuterbücher vom Ginkgo zu berichten und man konnte das beim Adel offenbar beliebte Gewächs inzwischen in ganz China angepflanzt finden. [1]
Eine rechte Heimat gefunden hat der Ginkgo aber eher in Japan, wohin ihn vielleicht der Buddhismus mitgenommen hat, als der im 6ten Jahrhundert über Korea auf die Inseln hinüberschwappte. Und irgendwie denkt man, dass da etwas passte: Japan und der Ginkgo.
Noch heute findet man in Japan viele alte und geschützte Ginkgos, oft auf Anhöhen, nahe Tempeln und Gräbern. [4] Sie sind im herkömmlichen Sinne keine heiligen Bäume, werden aber verehrt, weil sie alt sind und so mächtig wirken. Manche gelten als wundertätig. In Japan ist der Ginkgo, der einzelne große und starke Baum, ein Mythos, der tief mit der Tradition und dem Glauben der Leute verbunden ist und der seine Kraft bis heute behalten hat.
Man bittet den alten Ginkgobaum um Regen für den Reisanbau oder um Milch für die Kinder, sieht in ihm eine Wohnung von Göttern oder auch gefürchteten Geistern. Solcher Glaube wird gespeist aus Geschehnissen, die solchen Glauben nähren: Geschichten von Ginkgos, die Katastrophen, Feuersbrünste, ja Atombombenexplosionen überlebten und heute wieder wachsen und gedeihen.
In Shimonojo auf der Insel Kyusho lebt ein Ginkgo, der chikobu-san genannt wird. Er heißt so, weil er wie manche alten Ginkgos stalaktitenförmige Auswüchse hat, weiblichen Brüsten nicht ganz unähnlich, die auf Japanisch chi oder chichi für Milch oder Brust heißen. Der Namensbestandteil kobu bedeutet seinerseits Geschwulst oder Auswuchs.
Für manche Japanerinnen nun liegt der Gedanke "Funktion folgt Form" nahe, insbesondere, wenn sie zu wenig Muttermilch für ihre Babys haben. Diese Frauen pflegen dann zu dem verehrten Baum zu beten, etwas Rinde von dessen 'Zitzen' abzuschaben, in heißem Wasser ziehen zu lassen und den Sud davon zu trinken. Die Hoffnung zielt dabei auf eine wunderbare Vermehrung des Milchflusses. Klappt das Mirakel, hängen die Dankbaren eine aus Stoff geformte Brust an den Baum. [4]
Dann wieder ist der Ginkgo in ganz Asien heutzutage nur ein Material- und Nahrungslieferant und wenig verehrungswürdig oder gar nicht. Man nutzt sein Holz, das mittelhart, sehr hell und fein gemasert ist, für Möbel, Schnitzereien, auch in Tempeln, wobei man es sehr schätzt, dass das Holz gegen Schädlinge resistent ist. Die interessante Borke des Ginkgo ist übrigens wasserdicht und hitzebeständig, weshalb aus ihr auch Kork produziert wird. Die Blätter sind beliebte Deko-Motive. Die Samen, die sogenannten Ginkgonüsse, isst man: Geröstet oder einfach so schmeckt der Samenkern wie harzige Kartoffel, sagt man. Beliebt als Backzutat und mit 67% Stärke, 15% Proteinen, 3% Fett und 1 bis 2% Pentosanen und ebensovielen Faserstoffen recht nahrhaft und verdauungsfördernd. Die fleischige Hülle der Samen, die Sarcotesta findet breite Verwendung in der Volksmedizin.
Nach dem 2ten Weltkrieg wurden die medizinischen Wirkungen des Ginkgo auch im "Westen" entdeckt. Aus den Blättern werden heute durchblutungsfördernde Mittel hergestellt, die in alternden, hirn-, kreuz- und beinlahmen und zur Demenz neigenden Gesellschaften guten Absatz finden; zumal sie eigentlich keine Nebenwirkungen haben. [vgl. 5, 8]
Spätestens im Herbst, wenn es kalt wird, sieht man — sofern überhaupt vorhanden — an weiblichen Ginkgos die sogenannten Silberaprikosen. Es handelt sich dabei um goldgelbe, dabei jedoch silbrig schimmernde, runde Gebilde, die Früchten durchaus ähnlich sehen, aber keine sind. Zum einen schmecken sie überhaupt nicht und riechen auch nicht gut (nach Buttersäure und ähnlich unangenehmen Substanzen), zum andern sind sie nicht einmal keimfähig, weil sie es vielleicht noch werden müssen. Was soll denn das heißen? Beginnen wir beim Anfang.
Im Frühjahr knospen an den Enden der Kurztriebe zugleich mit den sprießenden Blättern und augenscheinlich mit diesen gleichberechtigt (sind nämlich nur eine Variation der gleichen Anlage, von der auch das Blatt eine ist), die Pollensackträger. Sie ähneln sehr den männlichen Kätzchen etwa der Haselnuss und enthalten eine Vielzahl von Pollensäcken. Wie die Haselnusskätzchen strecken sich die Pollensackträger des Ginkgomanns bei gleichzeitiger Reifung des Pollens bis die Pollensäcke sich öffnen und den Pollen dem Wind übergeben.
Zur gleichen Zeit haben sich beim weiblichen Ginkgo die Antagonisten entwickelt: Ebenso in Büscheln auf den Kurztrieben angeordnete Ensembles von jungen Blättern und sogenannten Integumenten. Bei denen handelt es sich um Samenanlagen, definitiv nicht um Blüten, die paarweise, manchmal auch zu dritt oder mehr, auf Stielen sitzen. Sie ähneln jungen Eicheln oder auch — wenn man so will — kleinen weiblichen Brüsten. An der Spitze eines Integuments erscheint ein klares Schleimtröpfchen, das den vom Wind hergetragenen männlichen Pollen aufnehmen und festhalten soll. Ist Pollen auf dem Schleimtröpfchen gelandet, zieht dieses sich in die Pollenkammer im Integument zurück.
Im Pollen befindet sich der Gametophyt, der sobald in der Pollenkammer angelangt, aktiv wird. Der Pollen wuchert und entlässt den Gamteophyten, der sich an das Innere der Samenanlage heftet. Nach vier bis fünf Monaten des Wachstums sieht das Innere dann so aus: Weiblicher und männlicher Gametophyt sind zueiander in Stellung gegangen, der männliche Gametophyt hat sich in zwei Spermazellen mit beweglichen Fortsätzen entwickelt. So ruht der ganze Apparat bis zum Herbst. Die eigentliche Befruchtung hat noch nicht stattgefunden und kann nun noch auf dem Baum oder erst nach Herunterfallen des in die fleischige Hülle (Sarcotesta) und eine feste Schale (Sclerotesta) verpackten Samens geschehen. Dabei quillt der männliche Gametophyt auf und bekommt einen Riss, die Spermien schwimmen heraus und eine von ihnen befruchtet die weibliche Eizelle in der Befruchtungskammer. [vgl. 5, a]
Sie sehen schon, beim Ginkgo ist vieles anders.
An einem der Bewunderer des Baums oder vielmehr der Form des so typischen Blatts kommt man bei der Besprechung des Ginkgo nicht vorbei: Goethe. Der kam 1815 nach einem Jahr des Schmökerns in Dichtung und Philosophie orientalischer Provenienz auf seiner Reise in die "Landschaft seiner Jugend" als Besuch in das nahe Frankfurt gelegene Haus eines "alten Freundes der Familie", des Bankers Willemer. Dieser hatte wenige Monate zuvor eine 20 Jahre später geborene, inzwischen ehemalige Schauspielerin und Tänzerin geehelicht, die im Vergleich zu Ehemann und dem Gast auch noch so hieß, wie sie war, nämlich Marianne Jung.
Gingo Biloba
Dieses Baums Blatt der von Osten
Meinem Garten anvertraut
Gibt geheimen Sinn zu kosten,
Wie's den Wissenden erbaut.
Ist es Ein lebendig Wesen
Das sich in sich selbst getrennt?
Sind es Zwei, die sich erlesen
Dass man sie als Eines kennt?
Solche Frage zu erwidern
Fand ich wohl den rechten Sinn;
Fühlst du nicht an meinen Liedern
Dass ich Eins und doppelt bin?
Goethe, 15. Sept. 1815
Die beiden Ginkgoblätter
Sommermüde Ginkgoblätter,
Leuchtend wie Zitronenfalter
Flattern auf die Bank hernieder,
Rauschen, wispern:
"Weißt du noch?"
"Denkst du noch?"
So singt das eine
Doppelstimmig — "jener Tage,
wo zwei Seelen, die sich suchten,
Zur Zweieinigkeit gefunden?
Schau mich an!
Ihr Geist erschuf mich
Ohne Riss- und Scheidegrenze
Sanft umsäumt von Wellenlinien
Herzen, zweifach und verschmolzen."
Doch die andere Doppelstimme
Raunt mir zu:
"Denkst du der grauen
Schicksalstage, die euch trennten?
Ich erwuchs in ihrem Zeichen.
Tief gespalten, losgerissen
Eine Hälfte von der andern —
Schau mit an — unlöslich bleiben
Beide Herzen doch verbunden."
Sommermüde Ginkgoblätter,
Leuchtend wie Zitronenfalter
Flattern auch die Bank hernieder,
Rauschen, wispern:
"Weißt du noch?"
Otto Crusius (1857 - 1918)
Des reifen Mannes Gastgeschenk an die Willemers, ein Diwan des persischen Poeten Hafis aus dem 14ten Jahrhundert rannte bei der aufgeschlossenen Frau des Hauses wohl offene Türen ein. Schon nach kurzer Zeit war sie mit den "Grundelementen morgenländischer Poesie vertraut" und imstande Goethes an sie gerichteten westöstliche Dichtungen ebenso dichterisch westöstlich zu erwidern. Ja, stimmt, da war zwischen beiden etwas entstanden. Nichts Platonisches, nein, eher etwas Goethisch-Jungsches, was nach einer noch zweiten persönlichen Begegnung 16 Jahre lang allein postalischen Bestand haben sollte.
Zu Beginn der Herbstzeit, im September damals, weilte Goethe in Heidelberg und entdeckte dort — neugierig wie er immer war und blieb — im dortigen Schlosspark diesen japonesischen Rätsel- und Wunderbaum und war zugleich erinnert an die Seelenfreundin dort in F., entzückt und rhythmisiert. Der Baum und seine "eigenthümlichen" Blätter waren Gegenstand von Fachsimpeleien und prosaischen Auslegungen und natürlich Rhythmisierungen im Kreis von Freunden und auch als die Willemers Ende September zu einem Kurzbesuch in HD erschienen.
Einen Tag nach der Abreise der Goethisch-Jungschen-Seelenfreundin ließ Goethe ihr ein heute sehr bekanntes Gedicht zukommen. Berühmt insbesondere deshalb, weil Goethe ein Blatt des Ginkgo von der Sorte tief geschlitzter solcher mit papiernen Falzen auf die Reinschrift des Gedichts klebte. Warum er dies tat und was eine goethisch-jungsche Beziehung sein soll oder nicht, das erklärt uns das Gedicht. (Kasten linke Seite!)
Wo Goethe nur die Schizophrenie des an sich Zusammengehörigen gesehen hatte, das im Weiterspinnen in Hans Franks "Marianne" (1953) nahe an die Legende der Diotima von den Kugelmenschen führt, fiel Otto Crusius (1857 — 1918) zusätzlich auch die eher ungeteilte Blattgestalt auf. In der Tat bringen Ginkgos tief geschlitze, gegabelte als auch rein fächerförmige Blätter hervor. Und letztere erinnern dann in ihrer Herbstfärbung schon mal an Schmetterlinge, wie Crusius das Goethesche Poem verarbeitend im eigenen Gedicht thematisiert. (Kasten linke Seite!) [vgl. 7, 9]
Eine respektable Gestalt, die Aufrichtigkeit und Verlässlichkeit ausstrahlt: In der Jugend mit kegelförmiger, sparriger Krone wie eine Konifere, im Alter dann runder und breiter wie ein moderner Baum, wie wir ihn kennen, reicht sein Stamm als Achse der ganzen Pflanze bis weit hinauf in den Kronenbereich. Seine Rinde ist von einem warmen Grau, hat breite, aber nicht tiefe, netzartige Furchen. Äste und Zweige gibt es in zwei Formen: Lang- und Kurztriebe, wobei letztere auf den ersteren in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen senkrecht ansetzen. Sie wirken stark gestaucht und nehmen nur sehr langsam an Dicke und Länge zu. So sind sie etwa nach fünf Jahren nur zwei Zentimeter lang. An ihnen treiben die Büschel aus Blättern und Samenanlagen, die unsere Augen im Sommer im typischen Ginkgogrün, im Herbst mit ebenso typischem Ginkgogoldgelb erfreuen.
Viele Namen hat der Ginkgo während der lächerlichen 1000 oder 2000 Jahre bekommen, in der er mit den Menschen lebt: Fächer(blatt)baum, Japanbaum, Japannussbaum, Goethebaum, Japanischer Tempelbaum, Entenfußbaum, Silberaprikose und und und. Doch was sind schon Namen? Aufs Herz kommt es an. Und das ist — wir können es bezeugen — groß und gut. Umarmen Sie einen Ginkgo! Wie fühlt sich seine Rinde an? Genau, überraschend warm; auch und gerade an kalten Tagen. Schauen Sie ihn genau an: Das ist ein ganz besonderer Baum. Denken Sie nur, was er uns erzählen könnte: 300 Millionen Jahre ...
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Quellen und Wissenswertes:
Interessantes zu Ginkgobaum:
Weil fasziniert von seiner Vielseitigkeit, erforscht die Amsterdamer Hochschullehrerin Cor Kwant seit Jahren den Ginkgobaum. Um auch andere zu begeistern, betreibt die Ginkgo-Expertin 'The Ginkgo Pages', ein privates, nichtkommerzielles Internetprojekt rund um den Ginkgobaum. In ihrer Sammmlung von Ginkgofotos aus aller Welt kann man auch die japanischen 'Wunderginkgos' bestaunen, die im Text besprochen werden. link
In Büchern zu Ginkgobaum:
[1] Artikel Ginkgobaum. Ginkgo biloba, in: Ulrich Hecker, Bäume und Sträucher. München 2006, 30-33
[2] Mark Bachofer, Joachim Mayer, Der neue Kosmos Baumführer 370 Bäume und Sträucher Mitteleuropas. Stuttgart 2006, 198 f.
[3] Wolfgang Caesar, Engelbert Kaempfer. Entdecker des Ginkgobaum. In: Maria Schmid und Helga Schmoll gen. Eisenwerth (Hg.), Gingko. Ur-Baum und Arzneipflanze. Mythos, Dichtung und Kunst. Stuttgart 1994, 43-47
[4] Atsuko Kato, Ginkgobäume in Japan. In: Maria Schmid und Helga Schmoll gen. Eisenwerth (Hg.), Gingko. Ur-Baum und Arzneipflanze. Mythos, Dichtung und Kunst. Stuttgart 1994, 33-41
[5] Helga Dietrich, Ginkgo biloba. Ein Überlebensstratege im Pflanzenreich. In: Maria Schmid und Helga Schmoll gen. Eisenwerth (Hg.), Gingko. Ur-Baum und Arzneipflanze. Mythos, Dichtung und Kunst. Stuttgart 1994, 15-22
[6] Rudolf Daber, Zur Paläobotanik des Ginkgo. In: Maria Schmid und Helga Schmoll gen. Eisenwerth (Hg.), Gingko. Ur-Baum und Arzneipflanze. Mythos, Dichtung und Kunst. Stuttgart 1994, 11-13
[7] J.A. Schmoll gen. Eisenwerth, Ginkgo biloba in Dichtung und bildender Kunst der Moderne. In: Maria Schmid und Helga Schmoll gen. Eisenwerth (Hg.), Gingko. Ur-Baum und Arzneipflanze. Mythos, Dichtung und Kunst. Stuttgart 1994, 123-135
[8] Wolfgang Caesar, Die Heilkräfte des Ginkgos. In: Maria Schmid und Helga Schmoll gen. Eisenwerth (Hg.), Gingko. Ur-Baum und Arzneipflanze. Mythos, Dichtung und Kunst. Stuttgart 1994, 23-31
[9] Heide Eilert, „Dass ich eins und doppelt bin“. Über Goethes Gedicht „Gingo biloba“. In: Maria Schmid und Helga Schmoll gen. Eisenwerth (Hg.), Gingko. Ur-Baum und Arzneipflanze. Mythos, Dichtung und Kunst. Stuttgart 1994, 55-64
[10] Hans-J. Weitz (Hg.), Johann Wolfgang Goethe. West-östlicher Divan. Frankfurt am Main 1988, 69
Im Web zu Ginkgobaum:
[a] Peter Del Tredici, Wake Up and Smell the Ginkgos. In: The Magazine of the Arnold Arboretum of Harvard University. 66/2. Boston 2008, 11-21. Direktlink zur pdf-Datei des Aufsatzes: link
[b] Auf der Internetpräsenz des privaten Ginkgo-Museums in Weimar gibt es viele Infos rund um den Ginkgobaum zu entdecken link
[c] wikipedia: Artikel zu Ginkgo link
[d] wikipedia: Artikel zu Engelbert Kaempfer link